booklooker.de - Sigrid und Detlev Lukas GbR
In Gestalt eines Ebers. von: Norfolk, Lawrence
Knaus Albrecht
leichte Gebrauchsspuren Pappe Aus d. Englischen von Walz, Melanie
(Originaltitel: In the Shape of a Boar).
Die kalydonische Jagd ist einer der großen Mythen der griechischen Geschichte:
Im 13. Jahrhundert vor Chr. dankte Oineus, Herrscher von Ätolien, den Göttern
für die reiche Ernte, vergaß jedoch, auch Artemis ein Opfer zu bringen.
Die Göttin der Jagd und der Ernte rächte sich, indem sie einen Eber in
das Land sandte, der Schafe riss, die aufkeimende Saat zertrampelte und
Reben entwurzelte. Meleagros, der Sohn des ätolischen Königs, rief daraufhin
die tapfersten Krieger seiner Zeit zusammen, unter ihnen auch die Argonauten.
Obwohl sie schon an ihrem Sammelpunkt in Kalydon schreckliche Verluste
erlitten hatten, hetzten sie den Keiler durch Salzmarschen, Lagunen und
schließlich über die Hänge des Arakynthus. Atalante, die einzige Frau unter
diesen Helden, zeichnete sich dabei durch Mut und Schnelligkeit aus. Meleagros
fühlte sich zu ihr hingezogen und weckte damit die Eifersucht von Melanion,
dem Nachtjäger. Am Ende waren es diese drei Jäger, die den Eber in eine
Höhle trieben und ihn erlegten. Doch wer von ihnen versetzte dem müde gewordenem
Rachetier der Artemis den Todesstoß? Atalante? Oder doch Meleagros? Alle
berühmten Dichter der Antike haben über diese Jagd geschrieben, ob Hesiod,
Ovid oder Apollonius, aber jeder von ihnen hat seine eigene Antwort auf
diese Frage gefunden. Sechs Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erzählt ein
jüdischer Dichter die kalydonische Jagd ganz neu: Es ist Solomon Memel,
der als Junge in Rumänien die "Säuberungen" der deutschen Truppen miterlebt
hat. Seine Eltern fanden in Lagern den Tod, er selbst konnte dank der Hilfe
Ruths, seiner großen Jugendliebe, nach Griechenland fliehen, in eben jene
Gegend, wo einst der Eber wütete. Sol Memel schloss sich einer Partisanengruppe
an, die sich um Geraxos und die Freiheitskämpferin Thyella bildete. Er
geriet in Gefangenschaft, erlangte nach der Landung der Alliierten in Thessaloniki
wieder die Freiheit und wurde daraufhin selbst zum Jäger. Er beteiligte
sich an der brutalen Hinrichtung des Nazi-Kommandanten Eberhardt. Seine
Erlebnisse als Verfolgter und als Verfolger verarbeitet er nun zu einem
gewaltigen Versepos - "Die Keilerjagd" -, das zuerst in einem kleinen
Wiener Verlag erscheint. Das Epos erregt großes Aufsehen, wird bald in
mehrere Sprachen übersetzt und in Deutschland Pflichtlektüre. Mitte der
fünfziger Jahre meldet sich Jakob, ein Jugendfreund des Dichters, aber
auch sein Rivale in dem Kampf um die Liebe Ruths, öffentlich zu Wort. Er
versucht Unstimmigkeiten in der "Keilerjagd" aufzuzeigen und wirft dem
Dichter unterschwellig vor, es mit der Wahrheit nicht sehr genau zu nehmen.
Als ein großer Artikel im "Spiegel" diese Kritik harsch zurückweist, nimmt
sich Jakob das Leben. Zu Beginn der siebziger Jahre muss sich Sol Memel
erneut mit der Frage auseinandersetzen, ob er Mythos und Wirklichkeit verschmolzen
oder das historische Geschehen verfälscht habe. Ruth, die er zuletzt kurz
nach Kriegsende getroffen hat, als sie ihm half, aus einem britischen Sammellager
für "Displaced Persons" herauszukommen, sucht den Dichter in seiner Pariser
Wahlheimat auf. Sie will die "Keilerjagd" verfilmen. Sol verfolgt die Dreharbeiten
und merkt, dass aus seinem Epos eine ganz neue, erotisch aufgeladene Geschichte
wird. Ruth stellt in ihrem Film alle heroischen Elemente der literarische(n)
Vorlage(n), insbesondere die Rolle der Atalante/Thyella, rigoros in Frage.
Lawrence Norfolk hat in der Hauptfigur seines neuen Romans deutliche Bezüge
zum Leben des Dichters Paul Celan angelegt, der 1954 ein Gedicht mit dem
Titel "In Gestalt eines Ebers" veröffentlichte. Wie Solomon Memel wuchs
auch Celan in Rumänien auf, verlor seine Eltern im Lager und sah sich später
durch alte Weggefährten dem Vorwurf ausgesetzt, er habe seine Vergangenheit
mystifiziert. Norfolk fasziniert die Vieldeutigkeit dieses Dichterlebens,
seine Brüche und Rätsel. Sie entsprechen seinem Verständnis von Geschichte,
das er in diesem Roman deutlicher als bisher zum Ausdruck bringt: Geschichte
wiederholt sich, aber wir werden ihrer nie habhaft. Es gibt keine verbürgten
historischen Wahrheiten jenseits der sinnlichen Erfahrung, wohl aber archetypische
Charaktere und Konstellationen, die in wiederholten Spiegelungen zum Vorschein
kommen. So wird nicht nur die Jagd nach dem Bösen in der kargen griechischen
Landschaft im 20. Jahrhundert wieder aufgenommen, auch das Liebesdrama
zwischen Meleagros, Melanion und Atalante setzt sich unter neuen Vorzeichen
in Rumänien zwischen Jakob, Sol und Ruth fort und später, in nochmals abgewandelter
Form, am Film-Set zwischen den beiden Hauptdarstellern und Sol. Norfolks
Sprache besticht durch eine hypnotische Kraft und Sinnlichkeit. Sie öffnet
dem Leser ferne Lebenswelten und Zeiten und nimmt ihn mit auf eine Reise,
die überraschende Einblicke in das Verhältnis von Mythos und Realität,
Dichtung und Wahrheit liefert. Mindestbestellwert: 4.50
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